An der Türschwelle am Weg von der Küche ins Wohnzimmer bemerkte ich unter meinem rechten Hauspatschen eine kleine, aber trotzdem merkliche Erhebung etwa in der Mitte des allgemeinhin als Fußgewölbes bezeichneten Bereichs, welcher bei mir allerdings nach Plattfußmanier eher klassisch abgesenkt ausfiel. Meine bisherige Lebenserfahrung interpretierte diese Unebenheit dahingegen, dass hier wohl etwas an der Unterseite meiner Schuhsohle kleben musste. Dies kam leider öfter vor und ich hasste es, denn das am Fuß, Schuh oder Socken klebende Objekt (,bisher glücklicherweise noch kein Subjekt,) hielt mir stets vor Augen, dass ich eine schreckliche Hausfrau war und dringend öfter zumindest Staubsaugen bzw. Staubkehren sollte. Auch, wenn ich es nicht wahrhaben wollte, ich war schon immer unordentlich gewesen und ließ vieles stehen und fallen, wo es sich gerade anbot, auch wenn es nicht viel mehr Aufwand und Energie kostete, die Dinge an ihren tatsächlich zugewiesenen Platz zu bringen; aber trotzdem war ich meist zu faul und es war mir auch egal. Es war mir immer egal, bis eine gewisse – objektiv gesehen vermutlich sehr hohe – Dreckigkeitsschwelle überschritten war. Dann konnte es ganz schnell gehen. Bereits kurz bevor diese erreicht wurde, machte sich immer schon eine innere Unruhe und Gereiztheit bemerkbar. Bis ich gleich einer Bombe dann schließlich in einem Wutausbruch explodierte, anderen Leuten im Haushalt ebenfalls – zumindest teilweise berechtigt – ihre Unordentlichkeit an den Kopf warf, und dann alles gründlichst bis zur schmalsten Fuge hinterm Badeschrank reinigte. Ich war immerhin auch eine Perfektionistin. Jedenfalls wollte ich niemals daran erinnert werden, dass bei mir ein gewisser Hang zum Messietum bestand, deshalb war meine innere Reaktion auf das auf einen dreckigen Küchenboden deutende Objekt auch nicht erfreulich und neben der Wurstigkeit, da für mich persönlich momentan die kritische Dreckigkeitsschwelle noch lange nicht erreicht war, was aber vielleicht auch damit zusammenhing, dass ich in letzter Zeit im Haus keine Brille mehr trug, schwang auch noch ein bisschen Wut auf den Dreck, der sich erlaubte, hier ohne Miete zu zahlen oder im Haushalt mitzuhelfen auf der faulen Haut am Boden zu liegen, mit. Gerne hätte ich den blinden Passagier auf meiner Sohle ignoriert, aber sollte es sich um etwas Klebriges handeln, war es erfahrungsgemäß schlauer, gleich zu reagieren. Widerwillig hob ich also mein rechtes Bein ganz nach Flamingo-Façon und fand ein 0,5 cm3 Speckwürferl annähernd in der Mitte der Sohle picken. Ein Zeitzeuge des vorgestrigen Abendmahls: Schupfnudeln mit Zwiebeln, Schafskäse und Speckwürfeln. Erfreut, dass es getrockneter Speck und nicht etwa ein Stück klebriger Datteln, oder saftiger Tomaten war, entfernte ich den kleinen Würfel mit einem routinierten Handgriff, beäugte das wunderbar aromatische, salzige Teilchen, den Gefallenen, dessen Packungsgefährten nicht allzu lange Zeit zuvor noch meinen Gaumen erfreut hatten, und an dessen Oberfläche nun aber Staubpartikel und diverse nicht Speck-endemische Mikroorganismen hafteten, bevor ich ihn in den gleich in Reichweite befindlichen Mülleimer mit meinem unbespeckten linken Fuß einen sanften Öffnungstritt auf sein Pedal verpasste und das Speckwürfelchen in den Tiefen des geöffneten Rachens des Eimers versenkte. So nahm dieser kleine Teil eines unbekannten Schweines sein trauriges, unnützes Ende. Vom Nutz- zum Unnutztier. Alea iacta est. Damals, als 10-jähriges Mädchen (vor 20?!! Jahren), als ich auch noch Vegetarierin war, hätte mich der Gedanke an sinnloses Tiersterben fertig gemacht. Und nachdem ich einige Stunden tränenvergießend in Embrionalstellung im Bett liegend verbracht hätte, hätte ich vermutlich wieder einmal ein Empörungsschreiben an die Regierung, die Landwirtschaftskammer, den Bauernbund und die Redaktion der Kronenzeitung verfasst. Verfasst wohlgemerkt, nicht abgeschickt! Auch die Schreiben an die kanadische Regierung zur Rettung der Babyrobben, an die spanische Regierung zur sofortigen Einstellung der Stierkämpfe und an die französische Regierung zum Verbot der grausamen Herstellungspraxis von Gänsestopfleber liegen noch unkuvertiert und unfrankiert in meiner Nachtkästchenschublde in meinem ehemaligen Kinderzimmer, da ich solche und auch sämtliche andere Schreiben bis zum Ende des Studiums stets auf dem Bett und niemals am Schreibtisch verfasst hatte. Leider sank, nachdem ich mir die Wut und Empörung von der Seele geschrieben hatte, stets die an diesen Wutpegel gekoppelte Motivation, die Briefe auch tatsächlich abzuschicken. Um meine Faul- und Feigheit vor mir selbst zu verschleiern, malte ich mir Szenarien aus, die eintreten könnten, sollte ich die Briefe auch wirklich absenden. Dass ich als Unruhestifter, womöglich gar Staatsfeind, indexiert werden und vorsorglich „zum Schweigen“ gebracht werden könnte oder dergleichen beruhigte mein Gewissen, den Gang zur Post nicht gewagt zu haben, ungemein. Wie vermutlich in allen Kindern, schlummerte auch in mir eine kleine Greta Thunberg, doch eine antriebslose, die ständig wieder einnickte, und die ich nun schon seit Jahren nicht mehr weckte, damit sie sich endlich mal richtig ausschlafen konnte. Heutzutage, zahlreiche weggeworfene Tierreste später, war ich bereits so abgebrüht, dass der entwertete, ungenutzte gepökelte und getrocknete Schweinewürfel keinerlei Tierschutz-motivierte Emotionen mehr hervorrufen konnte. Vermutlich war es auch keine Abgebrühtheit, sondern ein als solche getarnter psychologischer Schutzmechanismus, den jede erwachsene Person, die psychologisch als „gesund“ gelten möchte, ab einer gewissen Lebenszeit erlernen muss. Deshalb bestärkte ich mich in meiner emotionalen Rohheit dem Schwein gegenüber: Die Würfel waren für das Schwein leider ohnehin schon lange bevor sie auf meinen Küchenboden landeten, gefallen gewesen.
Autor: Zwitscherhendl
Wider der blutrünstigen Natur
Es war klar, dass uns das nicht erspart bleiben würde: In einem Blog von, für und über Frauen in den 30ern (also nicht DEN 30ern nach christlicher Jahreszählung, sondern ihren individuellen 30ern) und für und über alles andere auch, gibt es eine gewisse Wahrscheinlichkeit, so wie es für das Auftreten fast aller Vorkommnisse eine gewisse Wahrscheinlichkeit gibt, dass auch das Thema Menstruation einmal gestreift wird. Ja, ich würde es auch lieber ausblenden und das Feld Charlotte Roche und den anderen durchwegs gutaussehenden – sonst könnte man das vermutlich nicht wagen – ehemaligen Viva- bzw. MTV-Moderatorinnen oder Gwyneth Paltrow mit ihrem Vagina-Kerzen-Business überlassen, aber … nein. Also bringen wir’s hinter uns; kurz und schmerzlos.
Von wegen kurz und schmerzlos. Je älter ich werde, desto länger und schmerzvoller scheint sich die ganze Prozedur zu gestalten. Ich vermute ja, dass meine Biologie schon etwas ungeduldig mit mir ist und mich mit fortgeschrittenem Alter halt ein bisschen nachdrücklicher und bestimmter an meinen Fortpflanzungszweck erinnern will. Bereits vor 16 Jahren hatte sie mir den Startschuss gegeben; bisher ein Schuss in den Ofen. Ich nehm’s ihr ja auch nicht übel, ich kann den Grant nachvollziehen. Vor 5 Jahren habe ich meiner Mutter einen Zwetschkenbaum gekauft, der damals schon 2 Jahre alt gewesen war. Da wurde ich mit jedem fruchtlosen Sommer ein bisschen ungeduldiger und zugegeben auch ein bisschen erboster. Grausame Gedanken wie „Was für eine Fehlinvestition, da hätte ich auch einen Ahornbaum schenken können“ gingen mir da teilweise durch den Kopf. Und erst voriges Jahr hat er erstmals Früchte getragen; und davon auch nur 2 Stück, aber immerhin! Und süß und saftig waren sie auch!
Als saftig kann man auch meine Regelblutung beschreiben. Hätte mir mal einer gesagt, dass es nicht die Regel ist, so viel „Substanz“ zu verlieren, dann hätte ich mir vielleicht einiges an Eisenpräparaten erspart. Aber nein, alles muss man selbst ergoogeln. Und ja, natürlich hätte ich auch fragen können, ob das so normal ist, aber dafür bin ich zu stolz und natürlich zu verklemmt. Allein solche bildlichen Wortbeschreibungen zu googlen erfordert schon einiges an Mut von paranoiden Menschen, die denken, dass irgendjemand ihre Suchhistorie leaken könnte, wenn man sich plötzlich im Rampenlicht der High Society wiederfinden sollte. (Etwa weil man die nächste Beförderung zum Senior Sachbearbeiter erhalten hatte…? Tja, wenn die Bedrohung nachvollziehbar und real wäre, wäre man ja nicht paranoid.) Und neben der bereits geschilderten zunehmenden Schmerzen und der zunehmenden Stärke nimmt in Zeiten von „Helene leaks“ mit den Jahren auch die psychische Stabilität und die Kontrolle über die eigene Gefühls- und Gedankenwelt ab. Dieses Gefühl, von einem Dämonen besessen zu sein, der nicht auf Vernunft und Logik anspricht, kannte ich früher nicht. Auch die Geschwindigkeit des Stimmungswechsels gleicht nun nicht mehr dem Bild eines strahlend blauen Himmels mit einem kleinen Wölkchen, sondern eher dem eines von vielen, vielen mittelgroßen Wölkchen durchzogenen Himmels: 2 Sekunden Sonne, 10 Sekunden Schatten, 12 Sekunden Sonne, 3 Sekunden Schatten, 1 Sekunde Sonne, 4 Sekunden Schatten, usw. Ich denke, der Vergleich ist angekommen.
Bei solchen instabilen Stimmungsverhältnissen, ist es also nicht unüblich, dass so manch Gesagtes oder Getanes falsch ankommt. War die Katze in der Sonne noch grau, ist sie, wenn plötzlich der Schatten eintrifft, schon schwarz. Also werte Herren, aber auch Fellow-Damen (bzw. „nicht menstruierende Menschen“ und „ebenfalls menstruierende Menschen“, wie man dies momentan besser bezeichnen sollte, wenn man nicht in Ungnade der Twitter-Polizei geraten und damit das Risiko einer Bekanntmachung seiner Google-Suchhistorie erhöhen möchte): Zeigen Sie etwas Nachsicht, wenn Sie von einer kinderlosen Frau ab Ende 20 angestänkert werden. Sie waren möglicherweise einfach zur falschen Zeit am falschen Ort und wurden in den hormonalen Strudel des Horrors hineingezogen. Und es ist vermutlich auch nicht die Frau selbst, sondern ihre unterbeschäftigte Gebärmutter, die aus ihr spricht. Im Privaten würde ich hier, wie auch beim Auftreten von Rippströmungen im Meer, anraten, nicht gegen die Strömung anzukämpfen. Mit blutrünstigen Naturgewalten ist nicht zu spaßen.
Untragbar
Modephilosophisch erkannte ich meinerseits viele Überschneidungen mit Karl Lagerfeld, der gemeint hatte, Jogginghosen seien ein Zeichen der Niederlage (oder des Niederlegens?). Wer eine Jogginghose in der Öffentlichkeit trage, der habe die Kontrolle über sein Leben verloren. Also warum sollte ich daraus ein Geheimnis machen? Und außerdem: Solche Leute, die etwa bei über 25°C Anzüge trugen, die hatten wohl schon längst die Kontrolle an jemand anderes abgetreten. Da fuhr ich lieber in Schlangenlinien mit meinem Fahrrad, als gar kein Fahrrad zu haben; das Jogginghosen-Übel war mir also bedeutend lieber. Und sollte mir in meiner Couchpotato-Panier jemand, etwa aus der Arbeit, über den Weg laufen, so würde die- oder derjenige sofort Bescheid wissen; man würde sich nur von angemessener Entfernung aus zunicken und es wären keine weiteren Fragen mehr offen. Pyjama in der Öffentlichkeit wären somit auch eine relativ zuverlässige Smalltalk-Präventionsmaßname. Und auch eine nachhaltige. Sich zum Verlassen des Hauses extra umziehen war meiner Meinung nach sowieso eine der größten und sinnlosesten Lästigkeiten des Lebens. Mode hatte im Laufe der Geschichte so viele Bedeutungen durchlebt: Schutz, Zugehörigkeit, Präsentation, Selbstverwirklichung. Und immer mehr scheint es mir nun auch Restriktion und im gewissen Sinne Selbstgeißelung. Wie viele Damen zupften etwa im Sommer ihre zu kurzen Miniröcke verlegen nach unten und ihre zu knappen Tube-Tops nach oben und vergaßen dabei ganz, was für ein herrliches Wetter gerade war. Wieviele Konten waren zu Monatsende hin überzogen, damit man auch zur anthrazitfarbenen Hose einen farblich perfekt abgestimmten Gürtel hatte. Wenn ich daran dachte, wieviele Kleidungsstücke ich mir nur gekauft hatte, um für eine bestimmte Gelegenheit passend gekleidet zu sein. Oft hatte ich diese Stücke später nicht einmal für diese spezielle Gelegenheit angezogen, da ich mir darin zu Hause im Spiegel nur mehr als trauriger Faschingsnarr gegenüberstand. In solchen Situationen war ich dann doch oft, wenn auch leider nicht immer, stolz genug, mich lieber eventuell vor anderen Leuten zu blamieren, als mich vor mir selbst bloßzustellen. Zahlreiche Zeitzeugen ungezügelter und unüberlegter Konsumräusche gammelten noch heute ungetragen in lebenslänglicher Haft in meinem Kleiderschrank herum, gebrandmarkt mit einem niemals entfernten Preisetikett. Für den Fall, dass ich sie doch noch zurückgeben würde. Ob Karl Lagerfeld, der Mann im weißen Hemd, dieses Problem wohl gekannt hatte und in seinem Schrank zig preisbeschilderte Hemden in allen Farben des Regenbogens gehortet hatte? Ich wagte es zu bezweifeln. Doch eine Jogginghose, eine Jogginghose hatte er mit Sicherheit.
Hier noch einige inspirierende Zitate von Karl Lagerfeld, Abkömmling einer Kondensmilchdynastie:
1. „Ich hasse das Wort billig. Menschen sind billig, Bekleidung ist dagegen teuer oder preiswert.“
2. „Man muss das Geld zum Fenster rauswerfen, damit es zur Tür wieder reinkommt.“
3. „Ich stand nie unter Druck. Stress – kenne ich auch nicht. Ich kenne nur Strass.“
4. „Wenn mich Deutsche ansprechen, um mir zu erzählen, dass sie auch Deutsche sind, sage ich immer: Da gibt’s 80 Millionen von.“
5. „Es tut mir leid: Was ich sage, ist nur gültig, wenn ich es gerade sage.“
6. „Ich leide an einer Überdosis meiner selbst.“
7. „Am Fließband stehen, das ist Arbeit. Was ich mache, ist Freizeitgestaltung mit beruflichem Hintergrund.“
8. „Man lernt nur aus seinen Fehlern. Erfolg hat noch keinem geholfen.“
9. „Sexualität ist heute nur noch eine Sportart.“
10. „Ein Selfie ist elektronische Masturbation.“
11. „Nichts macht einen älter, als wenn man versucht, jung auszusehen.“
12. „Scham ist eine Frage der Selbstachtung.“
Helene DeLonge
Es war soweit. Die Amerikaner schienen sich die Vergangenheit der Science Fiction Filme in die Gegenwart und die Gegenwart in die möglicherweise niemals eintreffende Zukunft zu holen, in der sich China dem Anschein nach – so zumindest die amerikanische Berichterstattung – bereits befand. Der Zeitschriftenartikel über die Einreichung eines Antrags auf Patentschutz eines Raumfahrt-Ingenieurs der US-Navy für mehrere Konzepte bzw. „Erfindungen“ zur Quanten-Vakuum-Plasma-Antriebstechnik, die unglaubliche Fortbewegungsgeschwindigkeiten sowohl in Wasser, als auch in Luft ermöglichen sollten, so wie es bisher nur von diversen UFO-Sichtungen geschildert worden war, also sogenannte „Alientechnologie“, wie der Autor beschrieb, war mehrere Seiten lang. Meine Augen überflogen ihn auf der Suche nach leicht verständlichen, bekannten Wörtern. Im Grunde schien es in diesem Artikel nicht nur um die Einreichung dieses Patents zu gehen – dies war bereits zuvor versucht worden – sondern darum, dass dieses Patent nun erstmals auch tatsächlich bewilligt worden war. Ausschlaggebend dafür sei wohl das „Chinesen-Argument“ gewesen; die Warnung vor dem technisch ebensoweit vorangeschritten China. Das Risiko, die Angst, dass die Chinesen die ersten irdischen Aliens werden könnten, war dem amerikanischen Patentamtlern dann doch zu groß gewesen, weshalb man den Antrag im zweiten Anlauf bewilligt hatte. Diese Alientechnologie schien zwar anscheinend (noch) gar nicht zu existieren und zu funktionieren, man wollte sich das Patent jedoch dennoch sichern. Just in case. Ich minimierte den geöffneten Tab mit dem Artikel und lehnte mich nachdenklichen Blickes zurück, meine Hände auf Brusthöhe zu einem umgekehrten Merkel-Dreieck gefalten; zu einem Dach, unter dem das Verschwörungssüppchen nun derlei brodelte, dass dessen Dachgiebel, durch die unruhigen Bewegungen meiner Finger, beinahe einzubrechen drohten. Was zum Teufel ging hier vor sich? Wenn die Technologie noch nicht einmal zu existieren schien, waren die bisherigen UFO-Sichtungen also vielleicht tatsächlich Aliens gewesen und man versuchte nun die Technologie nachzubauen? Oder waren die gesichteten Aliens schon immer die Amerikaner gewesen, die ihre Tests durchgeführt hatten? Oder doch die Chinesen, die die Technologie schon mit einigem Vorsprung vor den Amerikanern entwickelt hatten? Oder war dies alles nur ein Ablenkungsmanöver der Regierung, um die Aufmerksamkeit vom weltlichen Geschehen abzulenken? Ich liebte Verschwörungstheorien. Die perfekte Chance, dem normalen Alltag zu entkommen und in eine fantastische Parallelwelt unterzutauchen, in der man als unermüdlicher Aufdecker schlußendlich seine Erfüllung und seinen Ruhm fand. Ja, und dieses Mal spürte ich, dass ich mich gerne komplett hineinfallen lassen wollte. Alles liegen und stehen lassen. Wie Tom DeLonge von Blink182 wollte ich dem ganzen nachgehen und dafür alles, sogar meine höchst erfolgreiche Band, wenn es diese denn gäbe, zurücklassen. Denn es war klar: Um eine Verschwörungstheorie ernsthaft zu erkunden, musste man das bekannte Territorium der Realität komplett hinter sich lassen. Und das für lange, ja vermutlich sehr lange Zeit am Stück. Die Gefahr, wahnsinnig zu werden, würde wie ein ausgehungerter Aasgeier über einem kreisen, darauf wartend, dass auch das letzte Fünkchen Realitätsbezug erlosch. Doch das war der Preis und ich war bereit ihn zu bezahlen.
Tags darauf erschien ich nicht zur Arbeit. Obwohl ich wie gewohnt um 6:15 Uhr aufgestanden war, gefrühstückt und meine Zähne geputzt hatte, war ich um 7:00 Uhr dann doch in die zur üblichen Arbeitsanfahrtsroute entgegengesetzte Himmelsrichtung unterwegs; mich zog es zum Untersberg, dem Salzburger Mekka für Verschwörungstheoretiker. Wer sich in Salzburg für Verschwörungstheorien interessierte, der kam nicht am Untersberg vorbei. Und auch sonst kein Salzburger, aber das war nicht der Punkt. Dieser sagenumwobene Berg, um welchen sich zahlreiche Geschichten über Zeitlöcher und sonstige physikalische Anomalien rankten, sollte als Ausgangspunkt meiner Alien-Enthüllungsmission dienen. Von dort aus würde ich Kontakt mit der Natur und dem Übernatürlichen aufnehmen, abseits der Ablenkungen des Alltags. Wenn ich dort schon kein Zeitloch finden würde, dann wenigstens Ruhe vor sozialen Kontakten, die mich mutwillig, so schien es manchmal, von meinen Recherchen abhalten wollten. Die im Sommer dramatisch erhöhte Anzahl an Anfragen für Ausflüge – also vier anstelle von einer, ein Zuwachs von 300% – waren mir momentan einfach nur lästig. Ebenso Anrufe nur um des Anrufens Willen. Ein weiterer Vorteil des Untersbergs, wo der Handyempfang nicht immer der beste war und man meines Wissens nach auch kaum Steckdosen zum Aufladen des Handyakkus vorfand. Jedoch war mein Aufenthalt am mysteriösen Untersberg von eher kurzer Dauer. Bereits am selben Abend meines Aufbruchs war ich auch schon wieder zu Hause angekommen. Ich hatte bereits nach einer dreiviertel Stunde einen Zecken entdeckt und ein konstantes Bedürfnis mich zu kratzen war einerseits dem Ekel vor der rohen Natur und ihren vielbeinigen Kreaturen, andererseits dem Spannungsgefühl, welches getrockneter Schweiß auf der Haut hervorrief, geschuldet. Und auch meine wiederholten Atemübungen und Meditationsversuche konnten meine innere Unruhe nicht mildern. Als mir dann bereits um zwei Uhr nachmittags auch noch meine letzte Cabanossi direkt über einem stark frequentierten Ameisen-Highway entglitten war, war das Schicksal meiner Outdoor-Recherchen besiegelt gewesen und die Mission war auf einen unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft, also möglicherweise auf niemals, vertagt worden. Das war auch nicht weiter schlimm, wusste ich ja nicht einmal, wonach ich ausgerechnet am Untersberg suchen wollte. Zuhause hatte ich außerdem noch einen Schokopudding mit Sahnehäubchen im Kühlschrank. „Not today, Aaasgeier.“, dachte ich und schaufelte mir im Zuckerwahn den ganzen 190 g Becher innerhalb von 58 Sekunden rein. Der Tag, so durchwachsen er auch gewesen war, nahm also doch noch ein erfreuliches Ende: Neue Bestzeit!
O’zapft is!
Schon als Kind hatten mich am Waldweg liegende Fichtenzapfen immer extrem an Scheißwürste erinnert. Alleine der Anblick: Die Form – meist gerade, manchmal aber auch mit einer geschmeidigen Biegung – in Kombination mit der Farbe – manche Zapfen waren heller, also eher diarrhöisch gefärbt, manche sehr verstopft-dunkel – machten es mir schwer, einen Fichtenzapfen NICHT als Abbild eines Exkrements zu betrachten. Ich dachte mir damals, dass das jeder so empfinde und es nur niemand aussprechen wollte, da Fäkaltalk in den meisten Gesprächsrunden sehr unpassend war, man sich für die Fichten ein bisschen fremdschämte und diese gleichzeitig aber auch nicht bloßstellen wollte, da sie ja nichts dafür konnten. Basteleien mit Fichtenzapfen oder auch Zapfenschlachten im Wald sah ich stets als Test beziehungsweise Mutprobe. Wenn ich ganz ehrlich bin, kann ich mich gar nicht mehr an einen Zeitpunkt zurückerinnern, an dem ich Fichtenzapfen nicht mit Fäkalien assoziierte, die Verbindung musste ich quasi beim ersten Anblick eines Fichtenzapfens bereits gehabt haben. Ich musste wohl damals auf die Fichtenzapfen, die an diesem Tag sicherlich in rauen Mengen, teilweise schon fast aufeinandergetürmt am Boden gelegen waren, geblickt haben und mir innerlich gedacht haben: Ich sehe, ich verstehe und ich werde schweigen.
Auch heute hatten die Fichten wieder massenhaft auf den Waldweg herabgekackt. Es war ein herrlich milder Sonntag, im letzten Märzwochenende dieses Jahres. Mit ernster Miene und latentem Ekelgefühl musterte ich das Naturschauspiel, welches sich zu meinen Füßen darbot. Schon alleine das Wort „Zapfen“ erweckte in mir unwiderruflich recht bilderreiche Assoziationen mit dem After. Und das, obwohl ich mich nicht einmal daran erinnern konnte, jemals eines davon „verpasst“ bekommen zu haben. Am Widerlichsten waren die teils abgeknabberten Zapfen, derer sich die Fichte schon vor Tagen, wenn nicht Wochen oder gar Monate entledigt hatte, und deren Farbe schon ins Graue überging. Solch ein Anblick ließ mich innerlich jedes Mal schaudern. Ein betagteres Pärchen kam mir entgegen. Sie gingen untergehakt, quasi miteinander verlinkt, und strahlten zusammen eine angenehme Ruhe und Zufriedenheit aus, auch wenn – beziehungsweise vielleicht auch gerade weil – sie dabei kein Wort wechselten. Der Blick der Frau schweifte über den Boden. Über Kies, dünne Aststückchen und diese widerlichen Zapfen, und traf schließlich meinen Blick. Und was nun geschah, brachte mein bisheriges Weltbild zum Wanken. Sie grüßte mich und lächelte dabei herzlich und unaufgesetzt. Wie war das in dieser Situation möglich? Hatte sie denn schon vergessen, was sie in der vergangenen Sekunde gesehen hatte? Ich versuchte, diesen ehrlichen Gruß zu erwidern, doch der Gedanke an den mit Kotzapfen gepflasterten Weg war noch zu frisch, ich musste mein Lächeln erzwingen. Wie in aller Welt, dachte ich mir, als der Abstand zu den beiden genügend groß geworden war, dass ich mir sicher sein konnte, dass sie meine Gedanken nicht hören konnten, wie in aller Welt also konnte die Frau so frei und unbefangen lächeln? Entweder, sie war eine verdammt gute Schauspielerin, oder sie hatte den Zapfen zwar gesehen, aber sie hatte ES nicht gesehen. Vielleicht hatte sie es noch nie gesehen? Möglicherweise gab es noch andere Menschen, die es noch nie gesehen hatten… Die gesamte Dauer des restlichen Spaziergangs kreisten derlei Fragen in meinem Kopf umher. Die entspannende Wirkung meines feinen Sonntagsspaziergangs konnte ich mir in die Haare schmieren, so zen war ich noch nicht, als dass ich diese Gedankenlast einfach abschütteln konnte. Ich entschied mich für eine Abkürzung, um schneller wieder Zuhause zu sein. Dort angekommen fragte ich Heribert sofort, woran er denn denke, wenn er an Fichtenzapfen denke. Als ich ohne irgendein Zögern oder Überlegen die Antwort „Eichhörnchen“ hörte, fiel es mir wie Fichtenzapfen-Schuppen von den Augen; heute, etwa 25 bis 30 Jahre später, wurde mir zum ersten Mal klar, dass ich all die Jahre in der Blase einer selbstkonstruierten Verschwörungstheorie gelebt hatte.

Zuhause herumgegurkt
Endlich Feierabend im Ohrensessel. Ich hasste es, am Tisch zu essen und liebte meinen moosgrünen Seniorensessel. Die Stunden vorm Computer waren lang gewesen, meine Gedanken schwebten wirr wie heimatlose Geister in meinem Gehirn umher, stießen an einer Seite an, federten ab und bewegten sich, je nach Aufprallwinkel, in die sich dementsprechend ergebende Richtung, bis sie erneut anstießen. Und so weiter. Es fühlte sich nebelig und wabbelig weich da oben an. Ich war müde und trotzdem entspannt, hatte aber gerade noch genügend Kontrolle über mich selbst, dass ich noch nicht unkontrolliert zu sabbern begann. Mit kindlicher Faszination hielt ich eine der Gurkenscheiben, die ich mir zum Snacken aufgeschnitten hatte, gegen das Licht der Nachmittagssonne, welche sanft durch das Fenster neben mir fiel. Die Weise, wie dieses stark wasserhaltige, saftige Zellgewebe dieser Gurke das Licht brach, machte aus mir von einem Moment zum nächsten ein zutiefst gottergebenes Wesen. Diese Gurke schmeckte zwar scheiße, weil ein wenig bitter, aber sie war unglaublich schön. Wie ein Kathedralenfenster sah der sanft von hinten durchleuchtete Gurkenquerschnitt aus. Mit ihren drei Fruchtfächern erinnert mich das Bild sofort an eine schemenhafte Darstellung der Trinitätslehre, die ich einmal im Internet, ja, vermutlich auf Wikipedia, gesehen hatte. Jede dieser drei Fruchtfächer war seinerseits aber auch noch einmal zweigeteilt. Die Gurke vereinte die Dreifaltigkeit mit dem Dualismus. Welch göttliche Frucht! Welch göttliches Gemüse. Hier spalteten sich ja die Geister und es gab durchaus Leute, die in ihrer Art der Kategorisierung sehr intolerant waren. Fanatische Kategorisierungsnazis gab es in allen Bereichen, aber, wie ich in einem lebensmittelinteressierten Berufs- und Freundesumfeld gelernt hatte, besonders auch, wenn es darum ging, was unter welchen Gesichtspunkten Gemüse und was Obst war. Unter diesem Gesichtspunkt eröffnete sich eine weitere Ebene, auf der man über die Gurke gehörig abnerden konnte, war sie doch ein Grenzgänger, erhaben jedweder Einteilung. Als Früchte, die sich in Folge einer Befruchtung von Blüten bildeten, konnte man argumentieren, dass sie botanisch gesehen zu den Früchten zählten. Jedoch war die Gurkenpflanze eine einjährige Pflanze; ein Argument für die Einordnung als Gemüse. „Normale“ Menschen, die nicht von botanischen Gesichtspunkten aus argumentierten, bevorzugten meist die Gemüse-Zuordnung aus rein geschmacklichen Gründen. Auch ich schloss mich der Meinung des gemeinen Pöbels an. Vor allem, weil ich mir diese auf Botanik basierenden Argumentationslinien einfach nicht merken konnte. Trotzdem blätterte ich gerne in alten Botanik-Büchern. Dort erfuhr ich auch, dass, obwohl die innere Struktur im Querschnitt überaus fragil und gebrechlich, ja gläsern, aussah, die Gurke den Panzerfrüchten zugehörig war. Wer würde das vermuten. Aber vor allem auch diese detaillierten, hangezeichneten Pflanzenabbildungen hatten es mir angetan. Würde ich selber einen Ausschnitt dieses Querschnitts genauso, wie er war, versuchen zu zeichnen, würde wohl niemand glauben, dass es sich um eine Gurke handelte. Und das lag nicht nur an meinen rostigen Zeichenskills. Diese unförmigen, platten Samen, die wie zweidimensionale Kerzenflammen aussahen, hingen völlig absurd an sehr dünnen Verbindungen, die unter diesem Blickwinkel wie Dochte erschienen, durch welche sie durch wie Kerzen-Wachskörper anmutende Gebilde an der dichter werdenden, weniger lichtdurchlässigen Zellmasse festgemacht waren. Das Gehirn abstrahiert so viele Details, dass sie diese erst im Zusammenhang wieder zuordnen und als Teil eines Ganzen erkennen kann. Dennoch sind diese Details essentiell. Würde diese „Kerzenstruktur“ im Gurkenquerschnitt fehlen, würde die Gurke unnatürlich aussehen. Das Vibrieren meines Telefon holte mich aus meinem tripähnlichen Gurken-Tagtraum. Noch einmal schaute ich durch die fruchtigen Kathedralenfenster, bevor ich sie mit einem Bissen zunichte machte. Gut, dass zumindest der Verein zur Erhaltung der Nutzpflanzenvielfalt die Genialität dieser Pflanze würdigte und die sie zum – wohlgemerkt – Gemüse (!) des Jahres 2019/20 kürte. Warum die göttliche Gurke, die die heilige Dreifaltigkeit und massenhaft Wasser des Lebens in sich trug nicht anstelle des Kreuzes das Symbol für das Christentum ist, bleibt mir ein Rätsel. Warum sich Katzen, die in althergebrachten Geschichten oft im Pakt mit dem Teufel stehen, so vor Gurken fürchten, ist für mich nun allerdings geklärt.
The Green No-Deal
Kurz vor 10 Uhr erreichten auch mich die Breaking News des Tages per Massenmail: Aufgrund der notwendigen Einsparungen müssten bedauerlicherweise weitere Maßnahmen getroffen werden. Die Dienste des externen Gärtners, der bisher einmal pro Woche ins Dienstleistungsgebäude kam, würden künftig abbestellt werden. Die gute Nachricht: Man hätte sich für die Mitarbeiter ins Zeug gelegt und einen guten Deal herausgehandelt und somit unsere geleaste Bürobegrünung gekauft, womit sie uns erhalten bliebe, sie jedoch eigenständig durch die Mitarbeiter selbst gegossen und gepflegt werden müsse. Das Sahnehäubchen: Gießkannen in verschiedenen Volumina könnten über die interne Beschaffung bestellt werden und gingen natürlich aufs Haus. Dieser großartige Green New Deal sorgte bei meiner Vorgesetzten sogleich für Beunruhigung. Mit einer Mischung aus Empörung und Besorgnis in ihrer Stimme eröffnete sie das wöchentliche Jour Fixe, welches seit dem vorigen Geschäftsjahr wohl aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen nunmehr mit Team Meeting betitelt war, mit der dringenden Frage, welche Vorgehensweise wir nun angesichts dieser Sparmaßnahme, die uns alle gleichermaßen betreffe, nun innerhalb unseres Team wählen wollten. Das Schweigen ordnete sie wohl als Innegehen jedes einzelnen Mitarbeiters ein und sie beschloss, uns noch 2, 3 Minuten zu geben, bevor wir unsere Ideen einem gemeinsamen Brainstorming unterziehen würden. Das Kollegium tauschte ungläubige Augenverdreher aus. Normalerweise sagte ich nie etwas in Team Meetings. Diese Taktik hatte ich bereits in Schule und Studium angewandt und war bisher immer exzellent damit gefahren. Normalerweise gab es immer zumindest eine andere Person, die eine Wortmeldung als Opfer spendete. An diesem Tag sollte es aber ich sein. Die Absurdität des „Problems“ überstieg für mich eine gewisse persönliche Schwelle, so dass es plötzlich aus mir herauskam, dass ich zuversichtlich wäre, dass wir das auch ohne fixen Gießplan schaffen könnten. Dass es wohl schon irgendwer machen würde, wenn das Grünzeug wirklich durstig aussah. Die Ausdruckslosigkeit der Gesichter aller Anwesenden wertete ich als Zustimmung und als auch nach einer halben Minute kein weiterer Einwand kam, schien auch meine Vorgesetzte akzeptiert zu haben, dass ihr Kampf verloren war und die Pflanzen von nun an ihrem Schicksal überlassen waren.
Ich bin der Telefonmann
Bei uns im Büro galt die Devise: Kein Telefonklingeln bleibt unerhört. Wenn also jemand bei einer Kollegin anrief, die gerade nicht am Platz war, musste jemand anderes abheben. Dies hieß für mich immer Zittern und Bangen, wenn es sich zufällig zutrug, dass etwa eine Kollegin auf der Toilette war, zeitgleich eine Handvoll Kolleginnen wieder mal zu den Kaffeeautomaten pilgerten und wieder zwei, drei andere Kolleginnen krank oder in Besprechungen waren. Meist ließ ich es 3, 4 Mal klingeln, um zu sehen, ob es ein ernst gemeinter Anruf war, bevor ich abhob, dem verdutzten Anrufer, der ja eigentlich gezielt mit jemand anderem sprechen wollte, erklärte, dass er eh die richtige Nummer gewählt hatte, die gewünschte Kontaktperson aber leider nicht „am Platz“ sei – sprich meist pieseln oder auf Kaffeeklatsch – und durch eine einladende Sprechpause ermutigte, seine gesamte Anfrage trotzdem detailliert auszuformulieren, um dann schlussendlich mit teils aufrichtigem Bedauern zu entgegnen, dass ich hier leider „nicht so im Thema“ sei und er doch bitte später nochmal dieselbe Nummer anrufen und dann bitte einfach nochmal alles von Beginn an schildern solle. Da werde dann vermutlich eh die gewünschte Person abheben. Zumindest hoffte ich das inständig für den Anrufer, aber auch für mich selbst. Anfangs rutschte mir noch ab und zu heraus, dass ich etwas nicht wisse oder von etwas keine Ahnung habe, aber das passierte mir schon länger nicht mehr. Nachdem ich in den ersten beiden Monaten „leider noch neu hier“ war, war ich schon ab dem zweiten Arbeitsmonat besser stets nur mehr „nicht so im Thema“, wie auch all meine anderen Kolleginnen.
Traumberuf Sachbearbeiter
Meine Jobbezeichnung laut Arbeitsvertrag, aber auch die Positionsbeschreibung im firmeninternen Telefonbuch, war mit Sachbearbeiter betitelt. Klang mehr oder weniger nach einer Tätigkeit für einen halbwegs gut organisierten Affen, der nicht allzu eigenwillig war und bei dem man schon froh war, wenn er nicht kreischend, seine blanken Zähne zeigend mit Zetteln und seinen eigenen Exkrementen um sich warf und seinen juckenden Hintern nicht gegen den Standdrucker rieb. Auf jeden Fall dachte ich, mich zu erinnern, dass es nicht die glorreiche Position „Sachbearbeiter“ war, die mir gleich dem Polarstern Geleit durch die Motivationstiefs im Laufe meiner 8-jährigen Studienzeit geboten hatte. Seit etwa eine Woche konnte ich darüber aber noch mehr lachen, hatte mir doch eine Kollegin erzählt, dass ihr nach 4 Jahren Firmenzugehörigkeit eine Beförderung angeboten wurde. Und zwar zur Senior Sachbearbeiterin. Nach kurzer Recherche fanden wir dann heraus, dass es wohl auch die Position des „Junior Sachbearbeiters“ gab. Quasi der Affe, der sich erst mal mit Bürobedarfsmaterialien vertraut machen musste; also etwa den Spitzer von allen Seiten beäugte, ihn drehte und wendete und sachte gegen den Tisch klopfte, und offenen Mundes durch das Spitzerloch durchschaute, während er sich mit der freien Hand in Gedanken versunken auf dem Kopf kratzte. Aller Wahrscheinlichkeit nach gab es den Junior Sachbearbeiter aber nur in Theorie, um den gemeinen Sachbearbeitern ein überlegenes Gefühl zu geben. Und es funktionierte ja auch, ich fühlte mich auf Anhieb besser: Hauptsache kein Junior Sachbearbeiter!
The Blog of Genesis
Mittelmäßigkeit. Lebensmitte aka “Midlife”. Mittelschicht. Mit diesen Erfolgszutaten möchte ich meine Einträge füttern und diese sollen meine Seite, meine geistige Aus- und Erstgeburt, prägen, so wie sie mich geprägt und geformt haben. Meine ursprüngliche Intention, meinen Blog “Midlife cry sis’”, also ein wie sich herausstellte mittelmäßig gelungenes Wortspiel mit den beiden Konnotationen Midlife-Crisis und Midlife-Heulsuse, zu nennen, erfüllte mich anfangs mit Stolz, welch geistreicher Witz mir innewohnte. Wie sich herausstellte, war jedoch auch das Level an geistreichem Witz eher mittelmäßig, da ich mir die allwissende Google-Suchmaschine einige Suchergebnisse mit übereinstimmenden Wortinhalten lieferte, um “präzise” zu sein, “about 1.050.000 results”. Darunter T-Shirts, oder Tassen mit diesem Aufdruck, Filme, Bücher oder Bands mit gleichem Namen und diverse Zeitungsartikel, die dies thematisierten und deren Verfasser sich wohl ebenfalls als besonders whitty sahen, aber vor Redaktionsschluss offensichtlich keine Zeit mehr gefunden hatten, zu googeln, wie abgedroschen ihre Wortwitzchen bereits waren. Nachdem ich kurz mit dem Gedanken spielte, mich selbst für meinen alte-Leute-Un-Humor zu bemitleiden, entschied ich dann doch, dass es besser sei, keine Zeit zu verlieren und mich sogleich auf die Suche nach einem neuen Namen für meine Blogseite zu machen. Etwas prägnanter und etwas hipper sollte es schon sein. Die Sekunden und Minuten verstrichen und mein rechter Zeigefinger bahnte sich aufgrund der Langeweile schon den Weg zum Eingang meines rechten Nasenloch, als mir eine göttliche Eingebung zu Teil wurde: wtf! Wie die plötzliche Erinnerung an eine vergessene Hausübungsaufgabe vor der betreffenden Schulstunde, in dem Moment, wo der betreffende Lehrer, der diese Aufgabe gegeben hatte, bereits das Klassenzimmer betrat, fuhr diese Idee wie ein Blitz in mein Gehirn ein. Obwohl bereits etabliert, waren diese drei Buchstaben noch immer hip, soweit ich das beurteilen konnte. Und sie vereinten alle von mir vordefinierten essentiellen Zutaten: White Thirtysomething Female. Gepaart mit der ursprünglichen Bedeutung des Akronyms “wtf”, wurde dem ganzen noch die nötige Prise Leichtigkeit und Absurdität verliehen. Ich konnte mich sofort damit identifizieren, es beschrieb meine derzeitige Situation und mein Sein. Und: Ich war schon immer ein Freund von Akronymen gewesen; sie sind mysteriös und exklusiv. Man muss zum ausgewähltem Kreis der Eingeweihten zählen, um sie zu verstehen und benutzen zu können. Das beste war, wenn man “vergebene” Akronyme nahm und sie einer neuen Bedeutung zuordnete. Wie etwa “homo” für Homeoffice. Oder “homo” für Home-Officer. Das machte einem zum Meister über diese Buchstaben, zu demjenigen, der die Macht hatte, unwissende Jünglinge zu rekrutieren und einzuweihen und vor allem Leute von oben herab zu belächeln, die diese Buchstaben der “alten”, nunmehr überholten Bedeutung zuordneten. Als wtf bekam man nicht oft die Gelegenheit, Leute schadenfroh von oben herab zu belächeln. Wtf schien perfekt, um einen elitären Blog über Mittelmäßigkeit zu betiteln. Um mir meine Freude über meine neue Namensidee nicht zu verderben, googelte ich dieses Mal nicht mehr. Zu meiner Überraschung war meine gewünschte Domain auch noch nicht vergeben. (Ok. Das ist eine Lüge, aber eine akzeptable Domain war noch verfügbar.) Ein Zeichen Gottes? Ein Zeichen Gottes. Nun musste ich nur noch meine Hände in den Schoß legen und warten, bis ich tatsächlich 30 werden würde. Nur wenige Leute sind in freudiger Erwartung ihres 30sten Geburtstags, nun bin ich eine davon. Wtf?!