Endlich Feierabend im Ohrensessel. Ich hasste es, am Tisch zu essen und liebte meinen moosgrünen Seniorensessel. Die Stunden vorm Computer waren lang gewesen, meine Gedanken schwebten wirr wie heimatlose Geister in meinem Gehirn umher, stießen an einer Seite an, federten ab und bewegten sich, je nach Aufprallwinkel, in die sich dementsprechend ergebende Richtung, bis sie erneut anstießen. Und so weiter. Es fühlte sich nebelig und wabbelig weich da oben an. Ich war müde und trotzdem entspannt, hatte aber gerade noch genügend Kontrolle über mich selbst, dass ich noch nicht unkontrolliert zu sabbern begann. Mit kindlicher Faszination hielt ich eine der Gurkenscheiben, die ich mir zum Snacken aufgeschnitten hatte, gegen das Licht der Nachmittagssonne, welche sanft durch das Fenster neben mir fiel. Die Weise, wie dieses stark wasserhaltige, saftige Zellgewebe dieser Gurke das Licht brach, machte aus mir von einem Moment zum nächsten ein zutiefst gottergebenes Wesen. Diese Gurke schmeckte zwar scheiße, weil ein wenig bitter, aber sie war unglaublich schön. Wie ein Kathedralenfenster sah der sanft von hinten durchleuchtete Gurkenquerschnitt aus. Mit ihren drei Fruchtfächern erinnert mich das Bild sofort an eine schemenhafte Darstellung der Trinitätslehre, die ich einmal im Internet, ja, vermutlich auf Wikipedia, gesehen hatte. Jede dieser drei Fruchtfächer war seinerseits aber auch noch einmal zweigeteilt. Die Gurke vereinte die Dreifaltigkeit mit dem Dualismus. Welch göttliche Frucht! Welch göttliches Gemüse. Hier spalteten sich ja die Geister und es gab durchaus Leute, die in ihrer Art der Kategorisierung sehr intolerant waren. Fanatische Kategorisierungsnazis gab es in allen Bereichen, aber, wie ich in einem lebensmittelinteressierten Berufs- und Freundesumfeld gelernt hatte, besonders auch, wenn es darum ging, was unter welchen Gesichtspunkten Gemüse und was Obst war. Unter diesem Gesichtspunkt eröffnete sich eine weitere Ebene, auf der man über die Gurke gehörig abnerden konnte, war sie doch ein Grenzgänger, erhaben jedweder Einteilung. Als Früchte, die sich in Folge einer Befruchtung von Blüten bildeten, konnte man argumentieren, dass sie botanisch gesehen zu den Früchten zählten. Jedoch war die Gurkenpflanze eine einjährige Pflanze; ein Argument für die Einordnung als Gemüse. „Normale“ Menschen, die nicht von botanischen Gesichtspunkten aus argumentierten, bevorzugten meist die Gemüse-Zuordnung aus rein geschmacklichen Gründen. Auch ich schloss mich der Meinung des gemeinen Pöbels an. Vor allem, weil ich mir diese auf Botanik basierenden Argumentationslinien einfach nicht merken konnte. Trotzdem blätterte ich gerne in alten Botanik-Büchern. Dort erfuhr ich auch, dass, obwohl die innere Struktur im Querschnitt überaus fragil und gebrechlich, ja gläsern, aussah, die Gurke den Panzerfrüchten zugehörig war. Wer würde das vermuten. Aber vor allem auch diese detaillierten, hangezeichneten Pflanzenabbildungen hatten es mir angetan. Würde ich selber einen Ausschnitt dieses Querschnitts genauso, wie er war, versuchen zu zeichnen, würde wohl niemand glauben, dass es sich um eine Gurke handelte. Und das lag nicht nur an meinen rostigen Zeichenskills. Diese unförmigen, platten Samen, die wie zweidimensionale Kerzenflammen aussahen, hingen völlig absurd an sehr dünnen Verbindungen, die unter diesem Blickwinkel wie Dochte erschienen, durch welche sie durch wie Kerzen-Wachskörper anmutende Gebilde an der dichter werdenden, weniger lichtdurchlässigen Zellmasse festgemacht waren. Das Gehirn abstrahiert so viele Details, dass sie diese erst im Zusammenhang wieder zuordnen und als Teil eines Ganzen erkennen kann. Dennoch sind diese Details essentiell. Würde diese „Kerzenstruktur“ im Gurkenquerschnitt fehlen, würde die Gurke unnatürlich aussehen. Das Vibrieren meines Telefon holte mich aus meinem tripähnlichen Gurken-Tagtraum. Noch einmal schaute ich durch die fruchtigen Kathedralenfenster, bevor ich sie mit einem Bissen zunichte machte. Gut, dass zumindest der Verein zur Erhaltung der Nutzpflanzenvielfalt die Genialität dieser Pflanze würdigte und die sie zum – wohlgemerkt – Gemüse (!) des Jahres 2019/20 kürte. Warum die göttliche Gurke, die die heilige Dreifaltigkeit und massenhaft Wasser des Lebens in sich trug nicht anstelle des Kreuzes das Symbol für das Christentum ist, bleibt mir ein Rätsel. Warum sich Katzen, die in althergebrachten Geschichten oft im Pakt mit dem Teufel stehen, so vor Gurken fürchten, ist für mich nun allerdings geklärt.