Das goldene Kind, das aus Bronze war

Vielleicht hatte ich es bisher missverstanden; ein persönliches Symptom als eines einer gesamten westlichen Generation missinterpretiert. Das Gefühl, für mehr bestimmt zu sein, sich zu fragen, warum man nichts erreicht, obwohl einem doch alle Türen offen stünden und so viel Potential in einem schlummere. Ich dachte immer, dies sei auf das Internet als mundwässernde und neidfördernde Ausstellungsplattform zurückzuführen. Wo man sich auf Social Media Plattformen wie ein Scout auf die Suche nach dem idealen „Lebens-Model“ durch die teils sehr professionell inszenierten Portfolios aller möglichen Menschen und somit aller Möglichkeiten begibt und abwägt, welche Lebensentwürfe, Urlaubsziele, Fotospots oder Ähnliches für einen selbst passen könnten, immer den Ausgangsstatus des „Models“ miteinbeziehend und mit seinem eigenen vergleichend. Welch anderer Ort als das Internet hätte mich also auf eine alternative Fährte zur Herleitung des mutmaßlich Internet-induzierten Generationenunglücks unerfüllter Träume bringen können? Nämlich auf die, dass dieses in der Pubertät aufkeimende und nun in der Existenz als „fertiger“, ausstudierter Erwachsener immer mehr und vermehrt unkontolliert wuchernde Gefühl, auserwählt zu sein und doch eigentlich nicht zu wissen, wozu oder geschweige denn warum, schon in der Kindheit gesät worden sein könnte.

Mein Vater träumte immer davon, dass ich ein Tennis Star würde und er mein Manager. Bereits nach meiner ersten Tennisstunde, da ich mich anscheinend überdurchschnittlich geschickt – aber bei Weitem nicht phänomenal – angestellt hatte, erwähnte er dieses Ziel erstmalig und dann fast täglich. Als Kind konnte ich es nicht ganz einschätzen, ob es ernst gemeint war, oder nicht. Sein Gerede hatte aber sicher einen gewissen ernsten Kern, so wie mein Vater auch in Hoffnung auf das große Glück ernsthaft Lotto spielte. Immer, wenn ich mit ihm Tennis spielte, verhielt er sich wie mein Trainer und ärgerte sich merklich, wenn ich seine Inputs nicht gleich umsetzte. War ich vielleicht doch nicht so ein „Naturtalent“? Natürlich begann ich schnell, Tennis zu hassen und weigerte micht danach für Jahre, überhaupt wieder einen Schläger anzurühren. Auch das Wort „Vorzeigeschülerin“ hörte ich ständig, oder wie brav und gescheit ich nicht sei. Als ich nach 7 Jahren von ausschließlich „sehr guten“ Noten einmal einen „guten“ Erfolg nach Hause brachte, schämte ich mich und bekam auch nur zu hören, dass es nächstes Mal wieder ein „sehr gut“ werden sollte, weil ich das ja besser könne. Es stimmte zwar meistens, dass ich zu den Klassenbesten gehörte, oder Klassenbeste war, jedoch wollte ich das zuhause gar nicht erzählen, da sonst wieder darauf herumgeritten worden wäre und ich nicht das Gefühl hatte, dass es der Rede wert war, da ich kaum etwas dafür tat. Die Aussage, dass ich Teil der zukünftigen „geistigen Elite“ würde, war mir mehr als unangenehm. In meiner Freizeit zeichnete ich gerne und für ein Kind meines Alters auch ganz gut, wobei nicht außergewöhnlich. In diesem Zusammenhang hatte ich die Worte „große Künstlerin“ damals öfter gehört, bis ich eines Tages einfach zum Zeichnen aufhörte, da ich wie zuvor schon beim Tennis schnell das Spielerische vermisste und einen Erfolgsdruck verspürte.

YouTube’s Wege sind wie immer unergründlich: Als ich unlängst in meinen persönlichen Empfehlungen ein Interview mit dem laut Wikipedia Schriftsteller und Fernsehproduzenten, laut meiner Definition Philosophen Alain de Botton als potentiell interessant befand und anklickte, fand ich die von ihm behandelten Themen und insbesondere die Art, wie er sie mit seinem trockenen britischen Humor aufbereitete, sehr ansprechend. Einige Klicks und Clips weiter stieß ich dann auf den Videovorschlag hochgeladen von „The School of Life“, dessen Mitbegründer Herr de Botton war und ist und dessen Stimme mir über das „golden child syndrome“ berichtete (siehe eingebettetes Video unten). Es war beinahe wie Liebe auf den ersten Blick, nur halt eher Schmerz auf den ersten Klick. Die Schilderung des Syndroms kam mir aus autobiografischer Sicht sehr bekannt vor. Grob zusammengefasst geht es darum, dass nicht nur durch emotionale Vernachlässigung, sondern auch durch unangemessenes Lob und Hochstilisieren von Fähigkeiten und Potentialen eines Kindes dessen psychische Entwicklung Schaden nehmen kann. Wenn Kindern eine glorreiche, glänzende Zukunft vorausgesagt wird, ohne dass sie selbst das Gefühl haben, irgendetwas Besonderes zu tun oder zu sein, kann das im späteren Leben dazu führen, sich bei Erreichen von „durchschnittlichen“ Karriere- oder Lebenszielen als Verlierer zu fühlen. Oft jagen diese Kinder auch einem für sie vorausgewählten Ziel, welches von anderen für sie gesetzt wurde, nach, um ihre Anfeuerer nicht zu enttäuschen. Selbst wenn sie dieses Fremdziel erreichen, fühlen sie sich danach nicht glücklich, sondern meist unerfüllt und leer, da es nicht „ihr“ Ziel war und sie sich womöglich auch nie gefragt haben, was sie selbst denn wirklich für sich wollen und worin sie selbst ihr Potential sehen. Beim Ansehen des Clips sah ich auch einige Parallelen zum „Impostor syndrome“, bei welchem Betroffene sich als Betrüger wahrnehmen und in ständiger Angst leben, externe Ansprüche nicht erfüllen zu können. Sie befinden sich in ständiger Angst, dass „die Blase“ platzt. Denn sie nehmen wahr, dass das hochgelobte Fremdbild absolut nicht mit dem eigenen Selbstbild übereinstimmt, dass man eigentlich gar nicht so talentiert und perfekt ist, wie die anderen meinen und dies irgendwann ans Licht kommen wird. Emma Watson (aka „Hermine“ aus Harry Potter) ist laut eigenen Aussagen etwa so eine „Betrügerin“. Ich könnte mir vorstellen, dass auch sie mit ihrem exzellenten familiären und schulischen Hintergrund in ihrem Milieu den Aufwand für ihre Karriere als eher normal und durchschnittlich wahrgenommen hatte und ihren Erfolg dazu als überproportional empfand und dies zu ihrem „Beschwerdebild“ führte. Im Falle des „Imposter syndroms“ sind es aber auch Erwartungen und das Fremdbild von Menschen, die einem nicht wirklich kennen können. Beim „Golden Child Syndrom“ geschieht diese Überhöhung im Rahmen der Erziehung. Oft werden Talente im eigenen Kind gedeutet, die man selber gerne ausgelebt hätte, eigene Wünsche für die eigene Zukunft auf den Nachwuchs projiziert. Auch wenn es gut gemeint ist, wenn man dem Kind nur Mut machen möchte, so kann dies eigentlich nur passieren, wenn man sich keine Zeit nimmt, die Fähgikeiten und Interessen des eigenen Kindes tatsächlich zu hinterfragen, zu schauen, wann ein Lob und in welchem Ausmaß angebracht ist. Wenn man sein Kind also nur oberflächlich kennt und sich nicht mit ihm beschäftigt. Ist das im Grunde nicht auch eine Art von emotionaler Vernachlässigung, denn auch hier findet das Kind kein wirkliches Gehör und wird verkannt?

Als ich ein Kind war, hatte ich – etwa bei Fernsehübertragungen von Sportveranstaltungen und den darauffolgenden Siegerehrungen – teilweise Probleme, Gold und Bronze farblich auseinanderzuhalten. War es denn Bronze oder doch Gold mit einer rötlichen Patina? Vielleicht ist meinen Eltern derselbe Fehler unterlaufen, vielleicht schien ihnen ihr bronzenes Kind aus der Ferne, aus der sie es betrachteten, wirklich golden.

Arrogantes, ermüdetes Kind, gemütlich auf einem Säckchen Froot Loops sitzend, in seinen guten Schuhen auf den nächsten Regenguss wartend.