Wer auf der Suche nach dem Sinn seines Lebens ist, der sucht oft vielerorts. Ich hatte nicht geplant, für meine Suche erstens den Boden zweitens der Tatsachen zu verlassen und mich mit Horoskopen zu beschäftigen, ich wusste bis vor Kurzem ja nicht einmal, dass es mehr als die Zeitschriften-Tageshoroskope gab, die vermutlich schon seit Anbeginn der Entwicklung von Textrobotern von ebensolchen zufällig generiert werden. Ein Update dieser Roboter wäre übrigens mal dringend nötig. Aja, und die Zuckersticks mit Sternzeichenbezug waren mir auch aus den Cafés dieser Welt bekannt. All das bezog sich immer nur auf das Sternzeichen, in welchen das Geburtsdatum hineinfiel. Ab und zu hörte ich Menschen munkeln, dass man aus den Geburtsdaten wohl auch einen Aszendenten herauslesen könne und dass dieser wohl äußerst wichtig, wenn nicht sogar wichtiger, als das Sternzeichen selbst, wäre. Da das Wort Aszendent aber kompliziert klang und die Bedeutung bzw. Bestimmung, welchen Aszendenten man hatte, einem nicht gleich mit zu Kaffee und Kuchen serviert wurden, hatte mich das nie interessiert. Zu aufwändig klang das. Nach Hexenritual bei Vollmond, wenn man den Aszendente bestimmen lassen wollte. Und sicher auch kostspielig, denn die meisten modernen Berufshexen verlangen für ihre Leistungen einen höheren Stundensatz als so mancher Installateurmeister. Kurzum: ich wusste nichts darüber und wollte es auch nicht.
Nun trug es sich aber zu, dass mir eine klatschfreudige Freundin bei einem Telefonat während des 2. Corona-Lockdowns erzählte, dass sie eine gar peinliche Entdeckung auf Instagram gemacht hatte. Um ehrlich zu sein: Sie hatte mir das bereits zuvor des öfteren erzählt, aber an diesem Tag interessierte es mich seltsamerweise. Es ging um das Profil einer Bekannten, die wir aus unserer Heimatstadt kannten, wir waren sogar zusammen in den Kindergarten gegangen. Ich mochte diese Bekannte immer sehr gerne, hatte aber nie viel mit ihr zu tun, da sie immer schon hipper und artsier war als ich. Zu Studienzeiten sah ich sie auch ab und zu bei WG-Parties gemeinsamer Bekannter, wo sie immer stockbetrunken war und sicher öfter Total-Blackouts hatte, dieser Zustand war quasi schon eine Konstante bei diesen Feiern. Wir fanden das damals alle recht witzig und sympathisch, retrospektiv betrachtet ging es ihr in dieser Zeit aber vermutlich beschissen. Jedenfalls war sie irgendwann einfach nicht mehr auf diesen Parties erschienen und man sah sie einfach nicht mehr. Wie mir die Freundin am Telefon (und auch das Instagram-Profil dieser Bekannten) mitteilte, war diese Bekannte, nicht lange nach ihrem sozialen Untertauchen, nach Berlin gezogen und hatte sich dort als Astrologin – also ihre eigene Tätigkeitsbeschreibung ist in der genauen Formulierung abweichend und länger und mit englischen Vokabeln, aber zum besseren allgemeinen Verständnis reicht dieser allseits bekannte deutsche Begriff meines Erachtens im Moment völlig aus – selbstständig gemacht. Ich klickte auf eines ihrer Astro-Videos von etwa 15 Minuten Länge. Es ging um irgendeine nicht allzu häufig vorkommende Art von Mondfinsternis, ich konnte dem Video nicht ganz folgen, da es einerseits oft schwierig ist, „nicht Natives“, die Englisch sprechen, aufgrund ihrer Eigenheiten die Aussprache betreffend zu verstehen, und zweitens verfügte ich nicht einmal über das astrologische Basiswissen und -vokabular, sodass ich dem Inhalt dieses Videos nicht einmal auf Deutsch hätte folgen können. Trotzdem schenkte ich dem Beitrag volle 15 Minuten meiner ungeteilten Aufmerksamkeit und spielte daneben nicht einmal Spider Solitaire oder löste mittelschwere Online Sudokus. Diese Bekannte hatte etwas Fesselndes. In einem blassrosafarbenen, luftigen Sommerkleid saß sie da, mit goldenen Kreolen an den Ohren herunterbaumelnd und dezentem Make-up, wie eine moderne Astro-Elfe. Sie war so mitreißend und von sich und ihrem Erzählten selbst überzeugt, ich musste einfach zuhören, obwohl – oder gerade weil – sie auch etwas lispelte und irgendetwas mit ihrer Oberlippe optisch nicht „normal“ war. Als hätte sie eine riesengroße festsitzende Zahnspange, durch welche sie die obere Lippe nur mit Müh‘ und Not drüberstülpen konnte, um ihren Mund zu schließen. Jedoch, da war keine. Doch gerade durch diesen Blickfang hing ich förmlich wie hypnotisiert an ihren Lippen. Der Fremdscham, der mir seitens meiner Freundin versprochen wurde, stellte sich nicht ein. Stattdessen klickte ich gleich auf den nächsten Videovorschlag. Was konnte es schaden, mehr über Planeten, Sternzeichen, Häuser oder Mondknoten zu erfahren? Schon mit 13 Jahren hatte mir jemand gesagt, dass ich ein spiritelles Medium sei, da die „Lebenslinien“ auf meiner linken Handfläche ein eindeutiges „M“ zeichneten. War ich meiner Berufung nun endlich auf der Spur?
Tags darauf führte mich meine erste morgendliche Google-Suchanfrage auf http://www.astro*beep*.com (da ich für eine Werbeschaltung dieser Seite ja keinen Cent sehe und sich die Betreiber der Seite ja womöglich auch dafür schämen, dass sie in diesem Beitrag vorkommen, sei der tatsächliche Name der Seite an dieser Stelle ausgeblendet). Hier ließ ich mir – selbstverständlich kostenlos – mein Geburtshoroskop berechnen. Meine genauen Geburtsdaten, also die minutengenaue Angabe meiner Geburt, fand ich zu meiner Überraschung in meiner Geburtsurkunde. Wer hätte gedacht, dass ich dieses verstaubte, schnöde Dokument doch nochmal für etwas sinnvolles brauchen würde? Als wäre es geradezu zur Ermittlung von Geburtshoroskopen ausgestellt worden. Ich hoffte inständig, dass die für die Eintragung des genauen Geburtszeitpunkts zuständige Person auch gewissenhaft gewesen war und tatsächlich die wahre Zeit eingetragen hatte und nicht, nachdem sie vergessen hatte, auf die Uhr zu schauen, schnell mal aufs Klo gegangen war, danach eine Kleinigkeit zu Mittag gegessen hatte, inklusive Nachspeise, danach in die Kaffeeküche gegangen war, um sich dort einen Espresso runterzudrücken, einen kurzen Blick in die am Ecktisch aufliegende Gratis-Zeitung geworfen hatte und ihr beim Blick ins Tageshoroskop ein Schreckensblitz durch den Körper gefahren war, als ihr plötzlich einfiel, dass sie die Geburtszeit nicht notiert hatte und sie folglich schnell nochmal aus dem Zimmer geeilt war, um dies nachzutragen und in Ermangelung der Erinnerung an die tatsächliche Zeit einfach irgendwas eingetragen hatte, so wie ich es in dieser Position sicher ab und zu tun würde. Jedenfalls gab es damals, zur Zeit meiner Entbindung, wenigstens noch keine Smartphones und permanente Konzentrationsableiter wie whatsapp, facebook, twitter oder instagram. Mein Vertrauen in die Korrektheit der Daten war also doch sehr hoch und ich begab mich also auf die Suche nach meinem Selbst.
Nach stundenlangem Zusammengoogeln der Bedeutungen „meiner“ Planetenkonstellationen in den Sternzeichen und Häusern saß ich nun endlich vor meinem Geburtshoroskop, von welchem ich mir Aufschluss über mein Schicksal erwartete. Zu Beginn war alles sehr vielversprechend. Lustiges Geplänkel zwischen mir und meinem Horosköpchen, welches mir ständig schmeichelte, dass ich eine grandiose Zukunft vor mir hätte. Ein paar Kleinigkeiten gab es zwar noch, an denen ich arbeiten musste, ein paar Stolpersteinchen, die ich achtsam erspähen und umgehen müsste, aber ansonsten konnte ich mich ensptannt zurücklehnen und die Zukunft geschehen lassen. Astrologie war toll! Ich fand so viele Dinge, die so gut zutrafen. Und wenn ich fand, dass sie nicht zutrafen, so war es doch eine wunderbare Anregung, sich einmal unter anderen Gesichtspunkten als den immergleichen mit allen möglichen Aspekten seiner Persönlichkeit auseinanderzusetzen. Ich war davon überzeugt, dass jeder sich zumindest einmal im Leben intensiv mit seinem Geburtshoroskop beschäftigen sollte. Die Idee, vielleicht sogar selbst Astrologin zu werden, breitete sich immer mehr in meinem Hirn aus. Quietschfidel scrollte ich also bei einer weiteren Astrologie-Homepage weiter nach unten und landete bei der sogenannten Gradastrologie, einer Strömung innerhalb der Astrologie, bei der jedem Grad, in dem die Planeten in den jeweiligen Sternzeichen standen, ein spezielles Schicksal zugeschrieben wurde. Dort kam mir eine Interpretation des 16. Grads des Zwilling-Zeichens, in welchem mein Mond stand, unter und in der es hieß, dass ich in einem von einem Alkolenker verschuldeten Unfall, oder einer Bombenexplosion verwickelt sein und meiner Familie dadurch große Sorgen bereiten würde. Nicht gerade das, was man über seine Zukunft hören möchte, wenn man selbst eigentlich viel positiver darüber gedacht hätte. Das abergläubische Medium in mir wollte sich zum Selbstschutz zwar vormachen, das derlei fatalistische Deutungen nun wirklich nur erfunden waren und dies als Humbug abtun, konnte sich aber nicht vollends von diesem Vorhaben überzeugen, sodass ich dann doch auch noch einige Tage danach darüber nachdachte. Ich hatte schon immer extreme Angst vor Unfällen und misstraute jedem auf der Straße. Natürlich, jeder hat Angst vor Unfällen und jeder denkt, dass andere unfähig sind, aber schon als Kind konnte ich nicht in ein Auto steigen, ohne die gesamte Fahrt über dauernd daran zu denken, dass ein unachtsamer oder alkoholisierter Lenker entgegenkommen und von der Fahrbahn abkommen könnte. Das betraf kurze 6 Minuten Autofahrten zum Waldrand, wo wir zum Heidelbeerenpflücken hinfuhren, genauso, wie Fahrten nach Italien, bei denen meine Eltern die ganze Nacht durchfuhren und ich komplett verkrampft keine einzige Sekunde meine Augen schließen konnte. Noch heute habe ich keine ruhige Minute in einem Auto, schon gar nicht als Mit- oder Beifahrer. Ob das normal ist, oder eine schicksalhafte Vorahnung, das kann ich nicht beurteilen. Auch lebe ich in ständiger Angst vor der Gastherme, welche mein tägliches Warmwasser für mich aufbereitet. Jedes Mal, wenn ich den Wasserhahn in Richtung der roten Markierung drehe und ich das Tick-Tick-Ticken der Therme höre bevor die Flamme gezündet wird, erwarte ich das finale Bum. Das Haus, in dem ich wohne, ist uralt, zumindest die Wasserleitungen haben öfter mal Lecks, die Gastherme wurde schon seit Jahren nicht mehr gewartet. Warte ich auf eine selbsterfüllende Prophezeiung? Meine innerliche Flamme für die Astrologie war jedenfalls, noch schneller als sie aufgeflackert war, urplötzlich erloschen.
