Was jetzt? Kommt da überhaupt noch was? Im Kindergarten hatte ich immer das Ziel der Volksschule, in der Volksschule immer das Ziel der Hauptschule (zumindest hieß sie damals so) oder des Gymnasiums und im Gymnasium das Ziel des Studiums vor meinen Augen; Etappen, die jeweils Grandioses versprachen und die Einlösung dessen dann immer aufs nächste „Level“ verschoben. Wie in jedem guten Computerspiel mit Suchtpotential, oder auch wie auch beim einarmigen Banditen im Casino. Der Jackpot wartet am Ende der nächsten Etappe. Als sich der Kobold mit dem Goldtopf (und mit Gold meine ich Sinn, Glück, Erfolg, Geld, Gratis-Öffi-Jahresticket, was auch immer – an diesem Punkt war ich schon lange nicht mehr wählerisch und hätte mich über jedes Zuckerl gefreut) auch nach dem Studium im Berufsleben nicht blicken ließ, schwante mir Böses: So wie das Christkind, der Osterhase und sich erwachsen verhaltende Eltern, sollte sich am Ende auch die Erzählung davon, dass Bemühungen belohnt werden, dass am Ende der Reise eine glorreiche Zukunft wartete als Illusion herausstellen?
Nun hatte ich auf Anraten der „Erwachsenen“ damals extra kein geistes- oder sozialwissenschaftliches Studium gewählt, um es später im Berufsleben mit der Arbeitssuche und dem Gehaltsthema einfacher zu haben, jahrelang wurde mir versichert, dass mich die Industrie mit meinem naturwissenschaftlichen Abschluss regelrecht umwerben würde und ich mit einem überdurchschnittlichen Einstiegsgehalt rechnen könne. Wir Studenten seien die zukünftige Elite des Landes. Und: Sobald ich meine Ausbildung abgeschlossen habe, liege es an mir und meiner Generation, die Zukunft aktiv mitzugestalten. Diese verführerisch angepriesene Lügen-Möhre, mit der mir in motivierender Absicht immer vor meiner Nase herumgewedelt wurde, wurde mit der Übergabe meines Abschlusszeugnisses und mit jeder danach eintrudelnden Job-Absage Stück für Stück vor meinen Augen restlos weggeknabbert. Bis ich eines Tages dastand, mit einem Job, der nicht viel mehr Geld einbrachte, als wenn ich etwa ohne Studium Regale im dm eingeräumt hätte (was ich damals immer alternativ zum Studium überlegt hatte), und in dem ich keinerlei Mitsprache- und Mitgestaltungsrecht hatte. Erst jetzt wagte ich mich zu fragen, ob ich Karotten überhaupt so gerne mochte. Sei’s d’rum, dachte ich mir. Jetzt bin ich hier, jetzt mach ich das beste daraus! Mit zwar schwindenden, aber trotzdem noch Optimismus machte ich mich weiter auf die Arbeitssuche und etwa 35 Bewerbungen und 5 Monate später klappte es dann auch, dass ich jemanden überzeugen konnte, dass ich in der Lage und gewillt bin, Aufträge nach einem exakt festgelegten Schema und mit fixen Vorgaben auszuführen. Da ich nie ein Mensch war, der jemals Autoritäten oder Abläufe hinterfragt hätte, kam ich auch gut zurecht und erledigte stets alle Aufgaben zur Zufriedenheit. Jedoch graute mir davor, die nächsten 45 Jahre so zu verbringen, in einem Umfeld, wo Kreativität und Freiheit keinen Platz haben. Offensichtlich trifft man nämlich bereits mit der Wahl eines naturwissenschaftlichen Studium die Entscheidung, jeglichen kreativen Regungen zu entsagen. Kreativ sein, so scheint es, muss man nämlich extra studieren, da gibt es eigene Lehrgänge dazu. Meine einzige Aufgabe war es, Aufträge abzuarbeiten und wie ein emotionsloser Taschenrechner zu funktionieren.
Als ich mir die Frage, welches Tier ich als mein Spirit-Animal ansehen würde, auch nach zweimaligem Arbeitsplatzwechsel spontan mit „Legehenne“ beantwortete, gestand ich mir offiziell ein, dass ich komplett desillusioniert und unzufrieden war. Bis zu einem gewissen Grad war es ja ok, eine Legehenne zu sein, nur die Haltungsbedingungen machten mir zu schaffen. Einerseits hätte ich gerne nur 1 Ei pro Tag gelegt bzw. einfach gerne selbst entschieden, wieviele Eier ich legen möchte und kann, da ich merkte, dass ich körperlich und mental auf Dauer den gewünschten Output weder erzielen konnte, noch wollte. Andererseits hätte ich manche meine Eier auch gerne selbst ausgebrütet. Viele waren für mehr als das klassische 5-Minuten-Ei bestimmt, wären formidable Hähne und Hennen geworden. Und was war der Preis? Mit 30 konnte ich mir nicht einmal alleine eine 2-Zimmer-Wohnung und die Fixkosten für mein Auto leisten, wenn ich nicht auf halbwegs auf hochqualitative Nahrungsmittel verzichten wollte. Kleidung oder sonstige Freizeitausgaben hatte ich ohnehin kaum. Das Studentenleben ging also munter weiter: Geteilte Wohnung, immer aufs Geld achten, allerdings nun ohne freier Zeiteinteilung. Und das, obwohl ich zu den sogenannten Privilegierten gehörte. Dazu immer die Geschichten meiner Eltern, ob ich mir nicht doch einmal eine Wohnung oder ein Haus kaufen möchte und dass es schön langsam Zeit für Kinder werde. Innerhalb einer Generation hat sich so viel geändert, außer die gesellschaftlich propagierten Ziele und die Erzählung, dass jeder alles erreichen kann. Was für ein enormer Druck, nicht zu „scheitern“, da dies offensichtlich nur auf das eigene Versagen zurückzuführen ist. In derlei gedankliches Fahrwasser geraten, fand ich es schwer, wieder hinauszufinden und bei jedem Versuch zog es mich auch immer wieder zurück, bestimmt auch, weil ich mich gar nicht wehrte. Es machte sich ein Gefühl der Trauer über die verstrichene Zeit, des Betrogen-Worden-Seins, der Verzweiflung breit. Mein ganzes Leben hatte ich bisher damit verbracht, einen fensterlosen Turm hinaufzusteigen, von dessen Aussichtsplattform auf der Spitze mir von verschiedensten Leuten eine atemberaubende Aussicht versprochen wurde (vergleichbar mit einer Bewertung auf tripadvisor mit ganzen 5 Sternen). Durch die mühsame und im wahrsten Sinne des Worte aussichtslose Reise wurde ich immer orientierungsloser und folgte einfach nur dem Handlauf der Treppe. Teilweise verwundert, dass – obwohl ich schon weit oben angelangt war – noch immer kein Lichtstrahl nach unten durchdrang, hatte ich die Reise hinauf dennoch stets fortgesetzt, bis ich plötzlich einfach anstand. Über mir befand sich nur die Decke, die Treppe hörte abrupt auf. Obwohl man sah, dass es einst eine Luke aufs Dach gegeben hatte, war diese schon vor einer Weile zuzementiert worden. Vielleicht hätte ich, bevor ich mich auf die Reise auf den Turm machte, mal nachschauen sollen, wann denn der letzte Eintrag bei tripadvisor datiert war… Diese Aussichtsplattform war vielleicht vor Jahren noch zugänglich gewesen, doch die Info war nicht mehr aktuell. Und im Nachhinein musste ich mir selbst auf den Kopf greifen, denn es war doch so offensichtlich: eine glorreiche Zukunft, was sollte das überhaupt anderes sein, als eine leere Worthülse? Glorreich, das Wort gab es doch abseits der Literatur gar nicht mehr, und das auch mit Grund, denn die zugehörige Bedeutung war derart rar geworden, dass auch die Bezeichnung ins Vokabular-Antiquariat unserer Gesellschaft aussortiert wurde.
Also: Was jetzt? Ich plädiere für die Aufklärung der Kinder und Jugendlichen darüber, wie die heutige Realität der Arbeitswelt tatsächlich aussieht, um Enttäuschungen vorzubeugen und um ihnen auch Anreize zu geben, vielleicht nicht die Sackgasse im Inneren des fensterlose Turms zu nehmen, denn es gibt sicherlich Alternativen, wie die zweifellos atemberaubende Plattform vielleicht doch etwa von außen erklommen werden kann. Was mich betrifft, habe ich keine Ahnung, ob ich die mühsam erstiegenen Treppen nicht einfach wieder runterlaufe und mich mit einem einfachen aber schönen Picknick am Fuße des Turmes begnüge.

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